Das Ende der Kanäle - Warum nicht alles beim Alten bleibt.

11.07.2011

Social Media macht nicht alles neu, aber vieles. Strategien von Unternehmen zum Umgang mit der Öffentlichkeit verändern sich in den letzten Jahren drastisch. Doch diese Entwicklung ist nicht abgeschlossen. Die Hintergründe sind im Wesen des Begriffs "Social Media" zu finden.


Prof. Tim Bruysten, Fachbereich Gamedesign an der Mediadesign Hochschule in Düsseldorf

Bisher war es in vielen Verlagen, Werbeagenturen oder Kommunikationsabteilungen von Unternehmen Umgangssprache, von der "Orchestrierung der Kanäle" zu sprechen. Damit war die Logik gemeint, wie Informationen, Kampagnen, Aktionen über eine bewusste Auswahl von Medien verteilt wurde.

Mit der Überallverfügbarkeit des Internet, die sich seit 10 Jahren zunehmend manifestiert (und bei der man doch immer das Gefühl hat, erst am Anfang zu stehen) wird diese Sprachpraxis zu einem Risiko. Das Internet ist kein "Kanal", es ist ein allumfassendes Gewebe, dass sich zwischen Menschen, Situationen, Maschinen, Orten, Produkten, Marken und Technologien spannt.

Ohne Internet gibt es keine Medikamente an der Apotheke, kein Benzin an der Tankstelle, kein Essen im Supermarkt. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie die Rituale zur Verabredung mit Freunden aussahen, bevor es Smartphones oder gar überhaupt Mobiltelefone gab. Wie verabredete man sich spontan mit einem Geschäftspartner in einer für beide fremden Stadt in der Welt von 1980? Ging das überhaupt?

Das Internet schafft eine Plattform für soziale Netzwerke. Damit ist nicht Facebook, Google+ oder Twitter gemeint. Damit sind echte soziale Netzwerke, Freundschaften, Geschäftsbeziehungen, Familien zwischen echten Menschen gemeint. Unternehmen wie Google, Facebook oder XING bieten auf dieser Basis einen Marktplatz, eine technische Plattform. Sie sind aber nicht selbst dieses soziale Netzwerk.

Denkt man jedoch nicht nur "soziale Netzwerke", sondern denkt man dazu noch den "Rest" des Internet, so wird die Durchschlagskraft dieser Entwicklung noch deutlicher: Software kann die nun für sie sichtbaren Situationen, Gespräche und Beziehungen zwischen Menschen nutzen und anreichern. Mit Werbung. Oder mit anderen Kontexten.

Das hat ganz konkrete Auswirkungen: So hat sich die Diskussionskultur auf Parties seit dem gemeinsamen Auftreten von Smartphones + Wikipedia drastisch verändert. Besserwisserei hat es ungemein schwerer. Und vielerorts werden Diskussionen so zu Diskursen, die zu einem tatsächlichen neuen Erkenntnisgewinn für Menschen werden können.

Gleichzeitig ist uns (vielleicht sogar zurecht) unbehaglich, wenn all diese Informationen über uns von Unternehmen genutzt werden, die nicht als allererstes unser persönliches Wohlbefinden zu ihrem Geschäftszweck erklärt haben. Sondern das eigene…

Bei dieser Art und Weise der Betrachtung sollte deutlich werden, dass "Social Media" nicht als ein weiterer Kanal betrachtet werden kann, den Unternehmen "bespielen" können. Social Media ist ein Begriff, der die Veränderung der Gesellschaft repräsentiert. Eine Gesellschaft von 2011, in der unglaublich viele Informationen von und über Menschen, Ereignisse, Marken, Unternehmen, Parteien in Realzeit abrufbar sind, in der diese Informationen mit anderen Informationen verglichen, angereichert, verändert, geremixt (…) werden können, ist eine andere Gesellschaft als die von 1980…

Die Plattformen, die dann auf dem Phänomen "Social Media" entstehen, wie eben Youtube, Twitter, Facebook, sind ebenfalls schwer als "Kanal" zu klassifizieren, da "Kanal" eine klare Abgrenzung zu anderen "Kanälen" impliziert. Deutlich sichtbar ist vielmehr, dass sie die alten Kanäle verbinden, vernetzen und miteinander viel stärker in Kontext setzen, als dies vor "Social Media" der Fall war. Ein TV Spot hat eventuell ein für alle sichtbares Echo in Facebook. Ein Plakat wird fotografiert und auf Flickr kritisch diskutiert. Ein Flugblatt wird in Google+ zum Gegenstand einer philosophischen Debatte…

Social Media bedeutet, dass überall da, wo früher "Kanal" gedacht wurde "vernetzte Gesellschaft" gesagt werden muss.