Hast Du mich gerade Kleines genannt? – Eine Annäherung an ein unterschätztes Genre

16.02.2015

Auch wenn sie heute nicht mehr Humphrey Bogart und Charles Boyer sondern Richard Gere und George Clooney heißen – das Phänomen, das die verzweifelte Minnie Moore ihrer Freundin Florence zu erklären versucht, kennen viele Frauen: Auf der Leinwand scheint die Liebe größer und dramatischer, als alles was das wahre L(i)eben zu bieten hat.1

1. Einleitung

"You know I think that Movies are a conspiracy? I mean it. I mean they are an actually conspiracy because they set you up for it. They set you up from the time you are a kid, they set you up to believe in everything, they set you up to believe in ideals and strength and good guys and romance and of course love. Love for instance. So you believe it, right? You go out, you start looking. It doesn't happen, you keep looking. You get a job, […], you spend a lot time fixing your apartment and […] then you learn how to be feminine… you know quotes "feminine", learn how to cook...there is no Charles Boyer in my life […]. You know, I've never even met a Charles Boyer. I never met Clark Gable, I never met Humphrey Bogart, I never met anyone, you know. They don't exist […], that's the truth. But the movies set you up, you know? They set you up and no matter how bright you are, you believe it."2

Auch wenn sie heute nicht mehr Humphrey Bogart und Charles Boyer sondern Richard Gere und George Clooney heißen – das Phänomen, das die verzweifelte Minnie Moore ihrer Freundin Florence zu erklären versucht, kennen viele Frauen: Auf der Leinwand scheint die Liebe größer und dramatischer, als alles was das wahre L(i)eben zu bieten hat.

Wie kaum eine andere Mediengattung ist die Romance3 in ihrer Rezeption weiblich dominiert. Bereits vor 70 Jahren waren Liebesfilme die bei Frauen beliebteste und bei Männern gleichzeitig unbeliebteste Filmgattung; heute liegt das Geschlechterverhältnis in den Kinosälen bei etwa 70:30.4 Damit ist sie besonders geeignet, kulturell geprägte Weiblichkeitsbilder erfolgreich zu manifestieren oder in Frage zu stellen.

Mit steigender Mediatisierung des Alltags generieren Heranwachsende ihre Vorbilder nicht mehr nur aus dem direkten sozialen Umfeld, sondern auch aus teils fiktiven medialen Werken. Ob Luise Miller, Elizabeth Bennet oder Hermine Granger: mediale Vorbilder können Mädchen und Frauen das eigene Selbst neu überdenken lassen und so (hypothetisch) gesellschaftliche Veränderungen auf der Macro- wie auch auf der Microebene mittragen.

2. Romance – Der Versuch einer Definition

Als weiblich besetztes Genre wird der Romance gesellschaftlich wie auch filmwissenschaftlich geringere Bedeutung beigemessen als männlich assoziierten, wie dem Thriller oder dem Western. Diese Vernachlässigung romantisch geprägter Filme führt zu einer bisher unsauberen Genreabgrenzung. Anette Kaufmann weist darauf hin, dass in der Genreforschung „lediglich in zwei Publikationen […] der rote Faden der […] Filmauswahl der Liebes-Aspekt“5 sei. In sämtlichen übrigen Studien seien Filme mit dominierender Liebes-Handlung jeweils entweder als Komödie oder als Melodram geführt.6

Dass eine Genredefinition doch komplizierter ist als vielleicht vermutet, zeigt eine Studie von Bordwell/Staiger/Thompson: „Of the one hundred films […] ninety-five involved romance at least one line of action, while eighty-five made that the principle line of action.“7 Obwohl die Autoren sich auf Produktionen bis zum Jahr 1960 beziehen, kann man ähnliche Verhältnisse auch im heutigen Kino beobachten. 85% aller Filme in einem Genre zusammenzufassen scheint weder aus Kritiker- oder Produzenten- noch aus Zuschauersicht zielführend. Umso mehr, da ein Großteil der genannten romantischen Handlungsstränge für die entsprechenden Filme und deren eigentliches Erzählziel irrelevant sind.8

Obwohl immer noch sehr grob gefasst, kommt Caweltis Definition dem Kern der Romance deutlich näher:

“The crucial defining characteristic of romance is […] that its organizing action is the development of a love relationship, usually between a man and a woman.”9

Die betonte handlungsorganisierende Funktion der erzählten Liebesgeschichte grenzt einen Großteil der 85% aus. Gleichzeitig lässt Caweltis genug Platz innerhalb der Genregrenzen für Filme, die nicht nur die Neu- sondern auch die Weiterentwicklung einer (potenziellen) Beziehung erzählen. Die angesprochene Heterosexualität des Paares ist, obwohl nach wie vor mehrheitlich vertreten, heute nicht mehr als so selbstverständlich zu betrachten wie noch 1976.

3. Romance – Ein historischer Überblick

Die Zeitspanne von den 1950ern bis heute weist in Bezug auf die Romance drei charakteristische Perioden auf, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.

3.1. Das Ende des klassischen Hollywood

Mit der Erfindung des Tonfilms begannen die „Goldenen Jahre“ Hollywoods, in denen fünf (vertikal komplett integrierte) Major- und drei Minorstudios das amerikanische Filmgeschäft oligopolistisch untereinander aufteilten.10 Diese Ära, geprägt von einem teilweise bis heute anhaltenden Starkult11, war 1954 bereits dem Ende geweiht. Ein verschärftes Kartellrecht und der Einzug des Fernsehens in die amerikanischen Haushalte ließen die Umsätze erstmals in der Geschichte sinken.12

Zumindest die Idole glorreicherer Zeiten blieben dem Kino erhalten und färbten mit ihrem Glanz auf vergleichsweise neue Gesichter wie Marilyn Monroe, Audrey Hepburn und Shirley MacLaine ab. Die Romance wurde in dieser Phase gleich von mehreren stilbildenden Regisseuren geprägt. Billy Wilder wechselte spielend zwischen abstrusen Komödien und ernsten Dramen13, dem Melodram drückte der deutsche Intellektuelle Douglas Sirk seinen Stempel auf, wie kaum ein zweiter.14 Die Romantic Comedy erlebte zwischen 1954 und 1964 eine Blütezeit. Viele Filme dieser Ära zählen heute als zeitlose Klassiker, darunter Frühstück bei Tiffany, Bettgeflüster und Manche mögen‘s heiß. Mit Audrey Hepburn, Doris Day und Marilyn Monroe sind diese mit den größten Stars der Romance dieser Zeit besetzt, die jeweils einen eigenen Frauentyp widerspiegelten. Marilyn gilt mit ihren üppigen Kurven noch heute als größtes Sexsymbol aller Zeiten, die ihr von 20th Century Fox verordneten Rollen bestachen eher durch unbedarfte Naivität und Charme, denn durch Geist. Dazu setzte Audrey Hepburn als ausnehmend elegante Europäerin in wortgewandten Rollen einen direkten Kontrapunkt. Doris Day hingegen war als Amerikas konservative Ikone berühmt geworden und stärkte diesen Ruf mit jedem Film, in dem sie ihre jungfräuliche Ehre (teilweise unter großen Anstrengungen) gegen männliche Unzucht verteidigte und bis zur Heirat bewahrte.

3.2. Die Entzauberung der Liebe

Die gesellschaftlichen Umbrüche der späten Sechziger Jahre beeinflussten auch die Filmindustrie. Mit der Stärkung der Frauenrechte in den USA ging neben einem erstmaligen Anstieg der Frauenerwerbsquote auf über 50%15 auch eine Verdoppelung der Scheidungsrate zwischen 1960 und 1970 einher.16 In Hollywood hielt eine neue Generation Filmemacher Einzug, und mit ihr das maskulin dominierte „Buddy Movie“. Für die plötzliche Abwesenheit von Frauen auf der Leinwand macht Philippa Gates gekränkten männlichen Stolz verantwortlich:

„To punish women for their desire for equality, the buddy film pushes them out of the center of the narrative [...]. By making both protagonists men, the central issue of the film becomes the growth and development of their friendship. Women as potential love interests are thus eliminated from the narrative space.”17

Anette Kaufmann fasst diese Periode aus Sicht der Romance ernüchtert zusammen:

„Zu den Verlierern dieses Wandels zählte der Liebesfilm, denn das ‚Buddy‘-Kino der ausgehenden 1960er Jahre zeigte wenig Interesse an frauenaffinen Gefühlsfilmen. […] In den Filmen der späten 1960er, der 1970er und der frühen 1980er war das Lieben eine überwiegend frustrierende Angelegenheit mit ungewissem Ausgang. Das Happy End, das [...] zu den Konstanten des klassischen Hollywood Kinos zählt, war fast völlig von der Leinwand verschwunden, […] Lieben [bedeutete] vor allem Desillusionierung.“18

Dass große Gefühle, wenn auch aus der Mode, dennoch großen Anklang beim Publikum fanden, zeigt der durchschlagende Erfolg von Arthur Hillers Love Story, der 1970 mit Einnahmen von über 100 Mio. US$ zum erfolgreichsten Film des Jahres wurde. Mit anderen Romances dieser Dekade verbinden ihn dabei gleich mehrere Eigenschaften. Im Gegensatz zu den Romantic Comedies des Goldenen Hollywoods erzählen Filme dieser Phase nur selten die Entstehung einer Beziehung vom Kennenlernen bis zur Paarwerdung.19 Stattdessen konzentrieren sich die Werke auf schon bestehende Beziehungen, welche Krisen unterworfen werden und an denen sie zumeist scheitern. Das märchenhafte Happily Ever After hält der Überprüfung durch die Realität nicht stand und muss weichen. Die bedeutendsten Darstellerinnen der Romance in diesen zwei Jahrzehnten waren neben der durch Love Story zu Weltruhm gelangten Ali MacGraw, dem Sinnbild des modernen Collegegirls, insbesondere Barbra Streisand und Goldie Hawn. Während Letztere in ihrer unerschütterlich optimistischen Art gleichermaßen zur Geliebten wie zum „Buddy“ wurde und so das Glück in der Liebe finden durfte, war Streisands tiefe, dramatische Liebe stets dazu verdammt, an ihrem Erfolg oder ihren Ambitionen zu zerbrechen.

3.3. Die New Romance

Nachdem Mitte der Achtziger Jahre wieder erste harmlose Romantic Comedies auf die Leinwand fanden, sollten drei Filme den Siegeszug der New Romance einleiten: Mondsüchtig, Harry und Sally und Pretty Woman. Seitdem finden sich jedes Jahr zahlreiche Liebesfilme in den Kinos: Erfolgreichstes Subgenre unserer Zeit ist zweifellos die Romantic Comedy, doch auch andere Genres gewannen wieder zunehmend an Bedeutung. Die Verfilmung klassischer Literatur führte den Romantic Costume Film zu neuer Blüte, die bekannteste Darstellerin in diesem Subgenre ist heute die Britin Keira Knightley.20 Das Melodram wurde insbesondere durch die Verfilmung zahlreicher Romane des Autors Nicholas Sparks wiederbelebt und um zeitgenössische Elemente erweitert. Das Romantic Drama erlebte von allen Subgenres die größte kreative Entwicklung und damit einhergehend die größte thematische Differenzierung innerhalb einer Untergattung. Die Themen reichen hier von Obsession21, Rassismus und Armut22 bis hin zu Liebe zwischen Mensch und Maschine.23 Als einziges Subgenre der Romance kann das Romantic Drama auch heute noch regelmäßig Erfolg bei der Verleihung renommierter Filmpreise vorweisen.

4. Konklusion

Die zunehmende thematische und künstlerische Standardisierung der amerikanischen Romantic Comedy in den vergangenen 20 Jahren macht das Genre auch für Branchenauszeichnungen zunehmend unattraktiver. Gleichwohl begründet das Genre nach wie vor große Schauspielkarrieren. Darstellerinnen wie Julia Roberts, Meg Ryan, Sandra Bullock und Reese Witherspoon sind – obwohl auch in anderen Genres aktiv und dafür vielfach ausgezeichnet24 - untrennbar mit der Romantic Comedy verknüpft.


Prof. Dr. Helmar Baum, Fachbereichsleiter Medien- und Kommunikationsmanagement

5. Fußnoten

1 Der folgende Artikel reflektiert ausgewählte Ergebnisse der Bachelorarbeit „Hast Du mich gerade Kleines genannt – Eine empirische Untersuchung der historischen Entwicklung des Frauenbilds in romantischen Hollywood-Filmen“ von Anja Stahr, Berlin, 2014
2 Wörtlich entnommen aus Minnie und Moskowitz. R: John Cassvetes. 1971
3 Im Folgenden wird der im amerikanischen Diskurs gebräuchliche und von Anette Kaufmann im Deutschen eingeführte Begriff der „Romance“ als Genreklassifikation übernommen (Vgl. Kaufmann 2007)
4 Vgl. Kaufmann 2007: 45
5 Ebd: 29
6 Neben diesen beiden Kategorien hat lediglich die Romantic Comedy, oft auch als RomCom abgekürzt, als Subgenre einen Platz im kollektiven Kulturbewusstsein.
7 Bordwell et al. 1985: 16
8 Insbesondere in auf ein männliches Publikum zugeschnittenen Filmen dienen weibliche Love Interests vorrangig als „Fräulein in Not“ und/oder als sexuelle Trophäe nach erfolgreicher Missionsbewältigung. In den vergangenen Jahren, in denen maskulin dominierte Genres auch vermehrt weibliche Zuschauer anziehen konnten, werden romantische Nebenerzählstränge auch zur Zuschauervermehrung durch die Attraktion eben jener neuentdeckten Zielgruppe genutzt.
9 Cawelti 1976: 41
10 Vgl. King 2002: 27
11 Schauspieler wie Humphrey Bogart, Lauren Bacall, Cary Elizabeth Taylor oder Cary Grant gelten bis in die heutige Zeit als die Filmstars. Ihre Filme werden insbesondere in der New Romance zum vielzitierten Fixpunkt.
12 Vgl. Schatz 2004: 211 ff.
13 z. B. Das Appartement, das er jedoch geschickt in den Mantel der Komödie hüllte.
14 Vgl. Klinger 1994
15 Vgl. Caplow 1994: 124 ff.
16 Vgl. Schultz 1988: 382 f.
17 Gates 2004: 24
18 Kaufmann 2007: 9
19 Welche bis dahin das klassische Happy End darstellte.
20 Nach ihrem Auftritt in der Abenteuer-Historien-Reihe Fluch der Karibik war sie in mehreren Kostümfilmen zu sehen, darunter dreimal unter der Regie von Joe Wright: Stolz & Vorurteil. 2005; Abbitte. 2007; Anna Karenina. 2012 Andere Auftritte in diesem Genre: Edge of Love – Was von der Liebe bleibt. R: John Maybury. 2008; Die Herzogin. R: Saul Dibb. 2008; Eine dunkle Begierde. R: David Cronenberg. 2011
21 Vgl. Eine verhängnisvolle Affäre. R: Adrian Lyne. 1987; Untreu. R: R: Adrian Lyne. 2002
22 Vgl. Monster’s Ball. R: Marc Foster. 2001
23 Vgl. Her. R: Spike Jonze. 2013
24 Den Oscar als beste Hauptdarstellerin gewannen für dramatische Rollen: Julia Roberts für Erin Brokovich (2001), Reese Witherspoon für Walk The Line (2006), Sandra Bullock für The Blind Side (2010)

6. Literatur

Bordwell, David; Staiger, Janet; Thompson, Kristin (1985): The classical Hollywood cinema. Film style & mode of production to 1960. New York: Columbia University Press.
Caplow, Theodore (1994): Recent social trends in the United States, 1960-1990. 1st pbk. ed. Montreal, Buffalo: McGill-Queen's University Press (Comparative charting of social change).
Cawelti, John G. (1976): Adventure, mystery, and romance. Formula stories as art and popular culture. Chicago: University of Chicago Press.
Gates, Philippa (2004): Always a Partner in Crime: Black Masculinity in the Hollywood Detective Film. In: Journal of Popular Film and Television 32 (1), S. 20–29.
Kaufmann, Anette (2007): Der Liebesfilm. Spielregeln eines Filmgenres. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
King, Geoff (2002): New Hollywood cinema. An introduction. New York: Columbia University Press.
Klinger, Barbara (1994): Melodrama and meaning. History, culture, and the films of Douglas Sirk. Bloomington: Indiana University Press.
Schatz, Thomas (2004): Hollywood. London, New York: Routledge (Critical concepts in media and cultural studies).
Schultz, T. P. (1988): Research in population economics. A research annual: vol. 6. Greenwich, CT: JAI Press.