Schriftwahl – ein Annäherungsversuch

26.01.2015

Die Helvetica ist allgegenwärtig. Sie ist eine der »Überschriften« der letzten sechs Jahrzehnte. Die vermeintliche »Schrift ohne Eigenschaften« findet vielerorts Anwendung. Das Potpourri diverser Einsatzgebiete erstreckt sich von Gestaltungs- und Architekturbüros über Autofirmen, Banken, Filmplakate, Museen bis hin zu einfachen Handwerksbetrieben. Die Helvetica, die ihren Siegeszug 1957 von der Schweiz aus zunächst als neue Hass Grotesk antrat, ist bekanntlich eine gute, brauchbare Schrift. Dies stellte Eduard Hoffmann, der zusammen mit Max Miedinger für die Entwicklung der Helvetica verantwortlich zeichnet, 1957 erstmals fest: »Die Schrift wirkt als solche gut«.[1]


Abb. 1: Eduard Hoffmanns Protokollheft (1956–1965)
Eines der wichtigsten Zeugnisse der Enstehung der Helvetica

Sie hat mittlerweile zahlreiche Nachahmer – die Arial (Monotype 1982), die Nimbus (URW 1983), die Swiss (Bitstream 1982) – gefunden und auch einige Neuauflagen wie etwa in der Neuen Helvetica (Linotype 1983) erlebt.


Abb. 2: Schriften, die sich an der Helvetica orientieren.

Die Helvetica, zweifellos zeitlos schön, setzt Grafikarbeiten von Gunter Rambow, Wolfgang Schmidt und Josef Müller-Brockmann trefflich ins rechte Licht, im Umfeld hoher Literatur jedoch oder auch auf einer Kondolenzkarte mag sie Manchem zu profan wirken.


Abb. 3: Josef Müller-Brockmann (1970): Plakatgestaltung »musica viva« für die Zürcher Tonhalle-Gesellschaft

»Wiederum begegnen wir hier dem Phänomen, daß Schriften – unabhängig von ihrer optischen Lesbarkeit – durch ihre Formsprache beim Leser bestimmte Gefühle auslösen und positiv oder negativ wirken können.«[2]

Jost Hochuli, Schweizer Buchgestalter und Typograf spielt dabei auf eine weitere wichtige Funktion jeder Schriftart an, nämlich den Inhalt allein durch ihre spezielle Ausformung zu interpretieren. Schrift vermittelt Atmosphäre. Es ist also nicht egal wer – soll heißen: welche Schrift – etwas sagt.

Für einen Laien mag dies zunächst schwer vorstellbar erscheinen. Einem Bild oder einem Gemälde wird niemand einen gewissen Deutungsrahmen absprechen wollen. Dem typografischen Material, lediglich 26 Zeichen, die es in großer und kleiner Ausformung gibt, komplettiert mit diakritischen Zeichen, Punkturen und Ziffern, werden dies hingegen nur Wenige zugestehen.

Woran liegt es, dass der Schrift, ihrer Auswahl und Anwendung heutzutage so wenig Bedeutung beigemessen wird? Liegt es an den vergleichsweise zahlreichen Ausformungen einer Schriftklasse, den vielen kaum mehr einzuordnenden Namen und Varianten tausender Schriften, dass die Orientierung fehlt? Oder ist Schrift einfach überholt in einer schnelllebigen, hochtechnisierten, sprachgesteuerten Welt im Stile von Apples Siri?

Sicher nicht. »Des Daseins eigentlichen Anfang macht die Schrift«[3] sagte schon Heraklit und meinte damit den Beginn der Gesellschaftsysteme, der eng an die Fähigkeit des Schreibens gebunden war.

Schriftsysteme haben sich über Jahrhunderte entwickelt. Sie sind wichtigtes Kulturgut – Ausdruck von Stil und Zeitgeist.
So darf es uns auch nicht verwundern, dass in einer offenen, vielschichtigen Gesellschaft auch viele unterschiedliche Schrifttypen vorhanden sind.

Schrift ist heute mehr denn je visuelles Transportmittel. Viele namhafte Firmen geben eigene, exklusiv auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Schriften in Auftrag. Um einige Beispiele zu nennen: die Deutsche Bahn gab 2005 die Helvetica zugunsten der DB Sans von Eric Spiekermann und Christian Schwartz (http://www.edenspiekermann.com) auf. Das Lehnbachhaus in München verfügt über die Lenbach Grotesk (Jakob Runge 2013), eine museal anmutende Sans Serif. Die Süddeutsche Zeitung implementierte 2012 die SZ-Schriften (Henning Skibbe und Nils Thomsen) und sieht sich mit diesen, auf optische Traditionen der Zeitung aufbauenden Schriftformen endlich im 21. Jahrhundert angekommen.


Abb. 4: DB Sans (2005), Eric Spiekermann,
Christian Schwartz

Abb. 5: Lenbach Grotesk (2013), Jakob Runge

Abb. 6: Vergleich der Excelsior mit der SZ-Text (2012),
Henning Skibbe und Nils Thomsen

Unabhängig von den Interessen großer Firmen gibt es auch für den normalen Anwender die Schrift für jede Tonart. Und so gibt es eben heute beispielsweise eine Archer als kaltwarme Neuinterpretation einer Slabserif, eine elitäre Narziss, eine urbane Gotham, eine einladende Genath sowie eine krakelige CC Wildwords. Egal welche der vielen Schriften wir anwenden, eines muss unbestritten bleiben: Schrift interpretiert den Text, gibt ihm Glaubwürdigkeit oder macht ihn fragwürdig – und dies bereits unabhängig von der gewählten Satzart. »Tut sie dies falsch, so stimmt das was ausgesagt wird, nicht mit dem überein, wer es sagt. «[4]
Der Frage, wie man eine Schrift ihrer Haltung entsprechend inszenieren kann, spürten die Mediadesign Studierenden der MD1012 und MD1013 gleichermaßen nach.


Abb. 7: Schaukasten zur Schrift Gotham

Ivan babic, Daniel Krategl und Alex Reinicke inszenierten die Schrift Gotham, in ihrem ursprünglichen, urbanen Stil amerikanischer Großstädte. Die Gotham, die Tobias Frere Jones 2000 zunächst exklusiv für das Männermagazin GQ entwarf, orientiert sich an der Gestaltung amerikanischer Schildermalerei. 2008 wurde sie durch die Kampagne im Rahmen der Präsidentschaftswahl von Barack Obama weltbekannt.


Abb. 8: Schaukasten zur Schrift Trump Mediäval

Abb. 9: Schaukasten zur Schrift Trump Mediäval

Die Trump Mediäval lädt den Leser mit wohltemperierter, einnehmender Stimme ein – charaktervoll, gleichwohl charmant, ohne dabei aufdringlich zu werden. Natalie Kennepohl, Hanna Rasper, Laura Ostermaier und Sonja Schröder (MD1012) inszenieren die Schrift gekonnt in ihrem Schaukasten: Zurückhaltende Gestaltung, ein Typoteppich in klarem eleganten weiß, kombiniert mit dem für Trumps Schrift so signifikanten et-Zeichen, das in ihrer Arbeit dimensional in einladendem Gelb hervortritt.


Abb. 10: Fotokonzept, Schrift Futura

Klar und schnörkellos sind die Grundklänge der Futura – die Schrift selbst eine konstruierte Grotesk, die seit 90 Jahren nichts von ihrer Beliebtheit eingebüsst hat. Sie kommt ohne Umschweife auf den Punkt. In einem funktionalen Zweckbau mittels Projektion sehen Sophie Schillo, Jenifer Lutz und Julian Schöll (MD1013) den Geist der Schrift treffend gespiegelt.


Abb. 11: Fotokonzept, Buchinszenierung
der Schriftanalyse derPalatino

Eine dynamische Schrift für viele Einsatzzwecke, zeitlos modern und doch traditionsverbunden, mild, unaufdringlich und angenehm, das ist die Palatino. Für viele Anwendungsbereiche nutzbar – in Bewegung. Feyza Demirören, Paulina Meider, Veronika Disl, Sara Markieton und Stefanie Dehler wählten die Langzeitbelichtung eines Wendebuches zur Charakterisierung ihrer Schrift.


Abb. 12: Fotokonzept für die Schrift Melior Natalie Krönauer, Joelle Lenz, Julia Nitzsche

Die Melior ist eine statische Antiqua, die ebenso wie die dynamische Palatino der Feder von Hermann Zapf entsprungen ist. Besser will sie sein, darauf weist schon ihr Name hin. Und das vor Allem beim Mengentext im Zeitungssatz. Sie bietet klare Lesbarkeit, ohne dabei arrogant zu sein. Nun ziert sie sogar das Erscheinungsbild des deutschen Bundestages – vornehm elegant wie die Gestaltung der Studentinnen – mit reflektierendem Spiegel.


Abb. 13: Fotokonzept für die Schriftanalyse der CC Wildwords

Dass man einem Laien keine Comic-Schrift normal erklären kann, ist das Credo von Max und Felix Kaiser (MD1013). Der eigens entwickelte »kleine Comic-Kaiser« rückt die auf Anforderungen des Letterings ausgerichtete Schrift ins rechte Licht. Er zeigt und verdeutlicht Wirkmechanismen. Lebendig, manchmal auch unakkorat. Charmant, im Comicstil. Schlichtweg passend.

Quellen:

Bildquellen

  • Abb. 1:
    Eduard Hoffmanns Protokollheft (1956–1965)
    Eines der wichtigsten zeugnisse der Enstehung der Helvetica
    Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever. Geschichte einer Schrift. Seite 71. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz
  • Abb. 2:
    Schriften, die sich an der Helvetica orientieren
    Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever. Geschichte einer Schrift. Seite 124. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz
  • Abb. 3:
    Josef Müller-Brockmann (1970): Plakatgestaltung »musica viva« für die Zürcher Tonhalle-Gesellschaft
    http://www.modern-theory.com/directories/muller-brockmann-josef Zugriff am 15. 10. 2014, 8:42 Uhr
  • Abb. 4:
    DB-Sans, 2005
    http://www.edenspiekermann.com/projects/deutsche-bahn Zugriff am 7. 10. 2014, 16:24 Uhr
  • Abb. 5:
    Lenbach Grotesk, 2013
    http://jakob-runge.de/typedesign/lenbach-grotesk Zugriff am 7. 10. 2014, 16:33 Uhr
  • Abb. 6:
    Vergleich der Excelsior mit der SZ-Text (2012),
    Henning Skibbe und Nils Thomsen
    http://www.fontshop.de/fontblog/suddeutsche-mit-neuer-typografie/ Zugriff am 7. 10. 2014, 15:38 Uhr
  • Abb. 7: Schaukasten zur Schrift Gotham (MD1012),
    Ivan Babic, Daniel Krategl , Alex Reinicke
    Foto: Lars Reiners
  • Abb. 8, 9: Schaukasten für die Schrift Trump Mediäval (MD1012), Natalie Kennepohl, Hanna Rasper, Laura Ostermaier und Sonja Schröder
    Fotos: Lars Reiners
  • Abb. 10: Fotokonzept für die Schrift Futura (MD1013)
    Sophie Schillo, Jenifer Lutz und Julian Schöll
  • Abb. 11: Fotokonzept für die  Schrift Palatino  (MD1013)
    Feyza Demirören, Paulina Meider, Veronika Disl, Sara Markieton und Stefanie Dehler
  • Abb. 12: Fotokonzept für die  Schrift Melior (MD1013)
    Natalie Krönauer, Joelle Lenz, Julia Nitzsche
  • Abb. 13: Fotokonzept für die Schrift CC Wildwords
    Max und Felix Kaiser (MD1013)

Zitate
[1] Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever. Geschichte einer Schrift. Seite 31. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz
[2] Hochuli, Jost (2011): Das Detail in der Typografie.
Seite 38. Niggli Verlag,Sulgen, Schweiz
[3] Heraklit, aus Kapr, Albert (1971): Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und Schönheit der Lateinischen Buchstaben.
Seite 13.  K. G. Saur. München - New York - London - Paris
[4] angelehnt an Luidl, Philipp (1996):
Basiswissen Typografie. Seite 37 ff, Deutscher Drucker.