Scripted Reality: Dauerbrenner oder Auslaufmodell der TV-Nachmittags-Unterhaltung?

24.07.2012

Scripted Reality: Dauerbrenner oder Auslaufmodell?

Scripted Reality

1. Einleitung

Aktuell werden auf den deutschen TV-Sendern RTL, VOX, RTL II, SAT.1 und kabel eins 
über 70 Reality-Formate ausgestrahlt, von denen 16 dem Genre Scripted Reality zuzuordnen sind, die täglich gesendet werden. (Stand Januar 2012). Mit jeweils sechs Scripted Reality-Formaten sind RTL und SAT.1 marktführend in diesem Bereich. Die Sendezeit einer durchschnittlichen Woche inkl. Wochenende von RTL besteht beispielsweise zu 2.250 Minuten aus Scripted Reality-Formaten (im Folgenden: SR-Formate). Dies entspricht einer Sendezeit von ca. 37 Stunden und nimmt damit einen Großteil der Gesamtsendezeit von RTL ein.[2] Zu den erfolgreichsten Scripted Reality-Formaten gehören „Familien im Brennpunkt“ mit Spitzenquoten von bis zu 37,6% in der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen und „Verdachtsfälle“ mit bis zu 32,2% (14 – 49 Jahre); beide aus dem Produktionshaus filmpool Film- und Fernsehproduktion. Gleichzeitig hat das Format mit massiver Kritik und einem enormen negativen Image zu kämpfen, so dass sich die Frage stellt, ob und wie sich Scripted Reality-Formate als aktuelle Cash Cows für Fernsehsender und Filmproduzenten in der Zukunft entwickeln werden. Im Folgenden sollen deshalb zum einen die Nutzungsmotive der Rezipienten genauer betrachtet werden. Zum anderen erfolgt ein Blick auf die Argumente der Kritiker des aktuell so populären TV-Formats.

2. Die Nutzungsmotive

In einer Kooperationsstudie der Gesellschaft zur Förderung des internationalen Jugend- und Bildungsfernsehen e.V. und der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen wurde untersucht, was Kinder und Jugendliche an SR-Formaten wie „Familien im Brennpunkt“ (FiB) interessiert und inwiefern sie den „gescripteten“ Charakter der Sendungen verstehen.[3] In der repräsentativen Studie wurden insgesamt 861 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 18 Jahren befragt. Davon wurden 294 „Familien im Brennpunkt“-Seher aus der Grundgesamtheit im Detail zu der Sendung interviewt. Von den befragten Kindern zwischen 6 und 12 Jahren stimmten 62% zu, dass sie „Familien im Brennpunkt“ sehen, weil sie dort sehen können, dass andere Familien auch streiten und weil es ihnen Spaß macht zu sehen, wie es wirklich in anderen Familien zugeht. Durch die extreme Ausgestaltung der Geschichten ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die eigenen Probleme vergleichsweise harmlos und der eigene Alltag vergleichsweise gelingend und glücklich erscheint. Des Weiteren zeigt die Studie, dass Kinder und Jugendliche besonders von den vereinfachten und klischeehaften Erzählstrukturen dieser Sendungen angetan sind. Aussagen der Befragten wie „Besonders gut gefallen hat mir, dass sich die Familien wieder vertragen haben“ oder „Seit ich ‚Familien im Brennpunkt‘ schaue, weiß ich, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt“ zeigen ferner, dass Kinder und Jugendliche durch die Rezeption dieses Formats den Eindruck gewinnen, dass sich scheinbar alle Probleme schnell und einfach lösen lassen. Dass die gezeigten Vorkommnisse extrem verdichtet und übersteigert und die Problemsituationen „romantisiert“ werden, erkennen sie nicht.

3. Realitätsverlust und das Spiel mit der Authentizität

„Alle handelnden Personen sind frei erfunden." Erst mit diesem Paradigmenwechsel von Laien, die sich selber spielen, zu Laien, die fiktive Figuren in ausgedachten Konflikten darstellen, kam der Quotenerfolg. „Authentizität fasziniert offenbar umso mehr, je künstlicher sie ist“, so der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.[4] Diese Verschiebung der Realität stellt ein großes Risiko für das Realitätsempfinden der Zuschauer dar. Einige der SR-Formate scheinen so authentisch und real, dass man als Zuschauer für einige Zeit vergessen kann, dass das was man sieht, nicht der Realität entspricht. Dies liegt vor allem daran, dass die Laiendarsteller in ihrer Unbeholfenheit einem so natürlich erscheinen. Auf diesen Effekt legen die Produzenten großen Wert. „Bei den Darstellern handelt es sich nicht um professionelle Schauspieler, die sich in jede Rolle hineindenken können“, so Eva Kaesgen, Produzentin von „Familien im Brennpunkt“. Bei der Besetzung der Darsteller achten sie jedoch darauf, dass „Rolle und Darsteller vom Typus her zusammenpassen.“ Die Darsteller spielen Geschichten, „die sie selbst hätten erleben können“, was zu entsprechender Glaubwürdigkeit führt. Dies ist für Kaesgen der Grund, warum SR-Formate den rein fiktionalen Formaten überlegen sind.[5] Die „authentische“ Darstellung sorgt dafür, dass Zuschauer Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten können. Die Laiendarsteller spielen ihre Rollen so authentisch, dass ein Teil der Zuschauer glaubt, dass das, was sie dort sehen, „echt“ ist. Zu dieser Gruppe gehören vor allem die Kinder und Jugendlichen, die häufig der Meinung sind, dass in der Sendung „Familien im Brennpunkt“ Familien in ihrem ganz normalen Alltag gezeigt werden.[6] Dies zeigt, wie gefährlich der Konsum dieser Formate gerade für Kinder sein kann, da diese nicht erkennen, was wahr und was fiktiv ist und dadurch ein falsches Bild von den familiären Situationen in Deutschland bekommen bzw. glauben, dass sich alle Probleme innerhalb von 45 Minuten lösen lassen.

4. Die Verletzung der Menschenwürde

Der wohl häufigste Vorwurf im öffentlichen Diskurs an die TV-Sender ist, dass sie mit den SR-Formaten bewusst die Verletzung der Menschenwürde in Kauf nehmen, wenn es denn einer guten Einschaltquote dient. Matthias Esche, Geschäftsführer der Bavaria Film, befürchtet bei den gescripteten Nachmittagsformaten sogar eine „Eskalationsspirale“. „Vor einigen Jahren genügten noch eher harmlose Streitfälle unter Nachbarn, in der jüngsten Generation aber werden immer härtere Delikte behandelt.“ Dabei ist er sich des Drucks bewusst, der auf den Sendern lastet, um ihre Zuschauer nicht zu verlieren. Die Entwicklung hält er jedoch für bedenklich.[7] Prof. Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler der Universität Tübingen, geht dabei noch weiter und bezeichnet die SR-Formate als „Sozialpornografie“, die auf aggressive Weise Klischees transportieren.[8] Auch im politischen Diskurs wird die Verletzung der Menschenwürde im Rahmen der SR-Formate thematisiert. Die medienpolitische Sprecherin der Grünen, Tabea Rößner äußerte sich zum Thema Scripted Reality folgendermaßen: „Die Menschenwürde wird dort nicht geachtet. Als verantwortlicher Journalist oder Produzent muss man diejenigen schützen, die vielleicht nicht einschätzen können, worauf sie sich einlassen.“ Auch bezüglich der Vorgehensweise von Produzenten äußert sie Kritik: „Man muss schon fragen, ob es immer noch härter, noch schlimmer, noch menschenverachtender zugehen muss.“[9] Dieser Ansicht ist auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck. Er fordert die Überprüfung von SR-Formaten: "Die Jagd nach der Zuschauerquote darf nicht dazu führen, dass Laiendarsteller in entwürdigenden Situationen zur Schau gestellt werden." Diese Äußerungen beziehen sich auf die aktuellen Beschwerden, die bezüglich des Formates „Schwer Verliebt“ bei der Landesmedienanstalt Rheinland-Pfalz eingegangen sind. Denn dort, so kritisiert Kurt Beck, „werden Menschen, die offensichtlich gar nicht wissen, worauf sie sich da eingelassen haben, öffentlich bloßgestellt und gedemütigt.“[10] Weitere Kritik bezieht sich darauf, dass SR-Formate vorsätzlich Streit und Konflikte schüren. Besonders in Formaten, die Familien dabei begleiten sollen, ihre Probleme zu lösen, sind Produzenten darauf aus, möglichst viele Streitereien zu generieren. Dies geschieht bei Produktionen, bei denen die Produktionsfirmen reale Familien begleiten und diese anhand eines Drehbuches oder eines Realisators in bestimmte Richtungen „drängen“. Für Tina Schober erklärt sich dies wie folgt: „Die Macher wissen auch, Harmonie will keiner sehen, Konflikte bringen Quote, also muss es krachen. Und dann gehen die Anweisungen in die Richtung: Wie klingt das denn, wenn ihr euch mal zofft etc.. Die medienunerfahrenen Teilnehmer spielen dann ahnungslos und naiv mit. Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Dabei ärgert sie am meisten, dass „niemand dagegen vorgeht, dass die Sender ihre Formate als vermeintlich authentische Dokus verkaufen dürfen, obwohl sie dies aber nicht sind.“[11]

5. Die Zukunft

Trotz aller Kritik wird es aufgrund der aktuellen Rechtslage zu keinem generellen Verbot von SR-Formaten kommen. Und auch die Landesmedienanstalten haben nur bedingte Möglichkeiten, die negativen „Auswüchse“ effektiv zu kontrollieren oder gar zu sanktionieren. So wird Scripted Reality auch in Zukunft, um mit den Worten von Jo Groebel zu sprechen, ein „Basisformat“ bleiben, das im Verlauf der Fernsehgeschichte mal mehr, mal weniger aufgetreten ist. Aufgrund der ökonomischen Vorteile, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten das SR-Format – wahrscheinlich in einer „menschenwürdigeren Verpackung“ – für sich entdecken werden. 1 Der folgende Artikel reflektiert die Ergebnisse der Bachelorarbeit „Scripted Reality – Chancen und Risiken von Scripted Reality-Formaten im deutschen Fernsehen“ von Carrie Stadelmann, Berlin, 2012 2 Eigene Stichprobe vom 01.01.2012 bis 31.01.2012 3 Alle Informationen bezüglich der Studie stammen aus Götz et al. 2012, S. 2 – 8 4 Fülbeck (24.07.2011) in: Der Westen.de: Scripted Reality – Dramen zwischen Fakt und Fiktion. http://www.derwesten.de/panorama/scripted-reality-dramen-zwischen-fakt-und-fiktion-id4901819.html 5 Vgl. Gottberg 2011, S. 78 6 Vgl. Götz et al. 2012, S. 6 7 Vgl. Gangloff 2010, S. 76 8 Vgl. Fülbeck (24.07.2011) in: Der Westen.de: Scripted Reality – Dramen zwischen Fakt und Fiktion. http://www.derwesten.de/panorama/scripted-reality-dramen-zwischen-fakt-u... 9 Rhein-Zeitung (23.11.2011): "Schwer verliebt": Politiker fordern Schutz vor entwürdigendem TV-Format. http://www.rhein-zeitung.de/regionales/extra_artikel,-Schwer-verliebt-Po... 10 Rhein-Zeitung (24.11.2011): Thema Sarah H.: Beck für Überprüfung von Kuppelshows. http://www.rhein-zeitung.de/regionales/extra_artikel,-Thema-Sarah-H-Beck-fuer-Ueberpruefung-von-Kuppelshows-Beschwerden-_arid,340944.html 11 Schneider (16.05.2011) in: Redaktionzukunft: Scripted Reality: Der „Etiketten-Schwindel“ Doku-Soap. http://www.hdm-stuttgart.de/redaktionzukunft/beitrag.html?beitrag_ID=943

Literatur

Fülbeck (24.07.2011) in: Der Westen.de: Scripted Reality – Dramen zwischen Fakt und Fiktion. http://www.derwesten.de/panorama/scripted-reality-dramen-zwischen-fakt-und-fiktion-id4901819.html Gangloff, Tilmann P. (2010): Ehrlich wahr. Sieht aus wie Doku, ist aber Fiktion: Privatsender setzen auf Scripted Reality. In tv diskurs 14/2010/3, S. 76-79. Götz, Maya / Bulla, Christian/ Holler, Andrea/ Gruber, Simone/ Schwarz, Judith (2012): Wie Kinder und Jugendliche Familien im Brennpunkt verstehen. Vorveröffentlichung in Televizion 1/2012. Abgerufen unter http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/Famili... Gottberg, Joachim (2011): Schein oder Sein- Scripted Reality und ihre Wahrnehmung durch junge Zuschauer. In tv diskurs Ausgabe 55, 1/2011. S. 74-79 Rhein-Zeitung (23.11.2011): "Schwer verliebt": Politiker fordern Schutz vor entwürdigendem TV-Format. http://www.rhein-zeitung.de/regionales/extra_artikel,-Schwer-verliebt-Po... Rhein-Zeitung (24.11.2011): Thema Sarah H.: Beck für Überprüfung von Kuppelshows.
http://www.rhein-zeitung.de/regionales/extra_artikel,-Thema-Sarah-H-Bec… Schneider (16.05.2011) in: Redaktionzukunft: Scripted Reality: Der „Etiketten-Schwindel“ Doku-Soap. http://www.hdm-stuttgart.de/redaktionzukunft/beitrag.html?beitrag_ID=943

von Professor Dr. Helmar Baum und Carrie Stadelmann, B.A.